LONDON/BRÜSSEL (dpa-AFX) – Ratspräsident Donald Tusk will in der Europäischen Union für einen langen Aufschub des Brexits werben. Voraussetzung dafür sei, dass Großbritannien eine längere Verschiebung für nötig hält und in London darüber Konsens herrscht, teilte Tusk am Donnerstag im Kurznachrichtendienst Twitter mit. Er kündigte an, für diesen Fall vor dem EU-Gipfel in der kommenden Woche an die Spitzen der Staatengemeinschaft zu appellieren. Das britische Parlament stimmt am frühen Abend (ab 18 Uhr MEZ) über eine mögliche Verlängerung der Frist für den EU-Austritt ab. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten dafür aussprechen wird. Voraussetzung für eine Verlängerung der Frist ist allerdings, dass alle 27 übrigen Mitgliedstaaten das billigen. Großbritannien wollte sich ursprünglich schon in etwa zwei Wochen – am 29. März – von der EU loslösen. Das Unterhaus und die Regierung waren aber im Brexit-Kurs zerstritten, viele Minister traten zurück. Spannend ist nun vor allem die Frage, zu welchem Zweck und wie lange die Abgeordneten in London den Brexit verschieben wollen. Premierministerin Theresa May verknüpfte die Abstimmung über die Verschiebung indirekt mit einer Entscheidung über ihr mit Brüssel vereinbartes Brexit-Abkommen. Ihr zufolge sollen die Abgeordneten die Wahl zwischen einer langen und einer kurzen Verschiebung haben. Nur wenn die Abgeordneten bis zum 20. März – also einen Tag vor dem nächsten EU-Gipfel – für ihren Deal stimmten, sei eine kurze Verschiebung des Austritts bis zum 30. Juni möglich, betonte die Regierungschefin. Jede längere Verschiebung mache eine Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl (23. bis 26. Mai) nötig. Das neu gewählte EU-Parlaments will am 2. Juli erstmals zusammentreten. Zweimal haben die Parlamentarier den Austrittsvertrag, den May im vergangenen Jahr mit der EU ausgehandelt hatte, schon abgeschmettert – zuletzt am vergangenen Dienstag. In Großbritannien wird spekuliert, dass sie die nächste Abstimmung für kommenden Dienstag ansetzen könnte. Parlamentspräsident John Bercow wählte am Donnerstag fünf Änderungsanträge aus, über die am Abend abgestimmt werden soll. Zu den Forderungen gehören Vorbereitungen für ein zweites Brexit-Referendum und Abstimmungen über Alternativen zum Abkommen. Riesen-Ärger gab es bei Brexit-Hardlinern, weil Bercow ihren Antrag, ein zweites Referendum auszuschließen, nicht ausgewählt hatte. Ein Antrag soll May die Kontrolle über den Prozess ganz entziehen. Ein anderer will verhindern, dass sie ihren Deal nochmals dem Parlament vorlegt. Mit der Zustimmung Brüssels für eine Brexit-Verschiebung wird gerechnet. Allerdings gibt es auf EU-Seite noch keine einheitliche Linie. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte sich zuletzt für eine höchstens kurze Verschiebung ausgesprochen. Der Brexit solle vor der Europawahl Ende Mai abgeschlossen sein, erklärte er in einem Brief an Tusk vom Montag. Auch Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechten FPÖ sieht eine Verschiebung des Austrittsdatums über den Termin der EU-Wahl hinaus sehr kritisch. Es habe niemand Verständnis dafür, wenn der Austritt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgezögert würde. Am Mittwochabend hatte das Unterhaus gegen einen EU-Austritt ohne Abkommen gestimmt. Die Abgeordneten verabschiedeten mit 321 zu 278 Stimmen einen Beschluss, der einen ungeordneten Brexit – anders als von der Regierung gewollt – in jedem Fall ablehnt. Die Entscheidung ist allerdings rechtlich nicht bindend. Ein sogenannter No Deal hätte weitreichende negative Folgen für die Wirtschaft und andere Bereiche. Die britische Abgeordnete Wera Hobhouse von den Liberaldemokraten rechnet mit einer langen Verschiebung des EU-Austritts. „Der große Streit um die Seele Großbritanniens (…) dauert länger als drei Monate“, sagte die in Deutschland geborene Politikerin der dpa. Sie selbst setzt sich für ein zweites Referendum ein. Nach Angaben der britischen Wahlkommission würde eine solche Volksabstimmung eine Vorbereitung von vier bis sechs Monaten benötigen.
Der EU-freundliche Finanzminister Philip Hammond glaubt weiter an das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen. Dem Sender Sky News sagte er: „Ich bin zuversichtlich, dass wir zu einem Deal gelangen werden, der es uns erlaubt, die EU in geordneter Weise zu verlassen und eine enge künftige Handelsbeziehung mit der EU zu haben.“ Knackpunkt im Brexit-Streit ist der sogenannte Backstop. Das ist eine im Austrittsabkommen festgeschriebene Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der Europäischen Union bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Brexit-Hardliner fürchten, dies könnte das Land dauerhaft an die Staatengemeinschaft fesseln und eine eigenständige Handelspolitik unterbinden. Sie hatten daher eine zeitliche Befristung oder ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop gefordert. Inmitten der Brexit-Querelen warb US-Präsident Donald Trump für ein Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien. „Meine Regierung freut sich darauf, einen umfangreichen Handelsdeal mit Großbritannien auszuhandeln. Das Potenzial ist unbegrenzt!“, twitterte Trump. May führt seit einer verpatzten Neuwahl im Sommer 2017 eine Minderheitsregierung an, die die Unterstützung der nordirischen Partei DUP benötigt. Sie ist auf jede Stimme im Parlament angewiesen.